Fünf Erfahrungen aus 20 Jahren Brandenburg – von Martina Gregor-Ness und Klaus Ness.

18. August 2011
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Wir sind ein Ost-West-Paar, die eine in der Lausitz groß geworden, der andere in Westdeutschland aufgewachsen und im Sommer 1990 erst nach Thüringen und 1991 nach Brandenburg gegangen. Wir haben beide die Nachwendezeit und die unmittelbaren Reaktionen der Menschen auf die ökonomischen und gesellschaftlichen Veränderungen miterlebt. Auch durch diese Erfahrungen ist das wiedererstandene Land Brandenburg unsere Heimat geworden. Unser Eindruck ist, dass in der gegenwärtigen Debatte um die Enquete-Kommission im Landtag einigen Diskutanten diese Erfahrungen fehlen. Oder sie diese Erfahrungen – ob bewusst oder unbewusst – ausblenden.

1.Erfahrung: Die Wendezeit war für viele Ostdeutsche ein Wechselbad der Gefühle

Die friedliche Revolution 1989 löste für viele Ostdeutsche ein ständiges Wechselbad der Gefühle aus. Freude aber auch neue Ängste lösten sich pausenlos ab. Aufstiegshoffnungen und Abstiegsängste lagen dicht beieinander. Freiheit hatte in der einen Minute etwas Hoffnungsvolles, konnte in der nächsten aber auch etwas Beängstigendes auslösen. Neben dem Gefühl, erstmals in seinem Leben ohne Angst seine eigene Meinung sagen zu können, stand innerhalb kürzester Zeit die Erfahrung, dass der Arbeitsplatz in Gefahr war. Dem Versprechen auf “blühende Landschaften“ stand die Abwicklung des eigenen Betriebes gegenüber. In den Nachwendejahren waren Hunderttausende Ostdeutsche in ABM damit beschäftigt, ihre eigenen Arbeitsstätten im wahrsten Sinne des Wortes dem Erdboden gleichzumachen. Heute gehen etwa 80 Prozent der Ostdeutschen einem anderen Beruf nach als zu DDR-Zeiten. Der neuen Freiheit, ohne staatliche Gängelung seinen eigenen Weg finden zu können, stand das Gefühl gegenüber, in vielen Fragen auf sich selbst zurückgeworfen zu sein. Dem Aufbruch des Wende-Herbstes, der viele Menschen zum gesellschaftlichen Engagement führte, folgte im Augenblick der Gefährdung des eigenen sozialen Status deshalb vielfach der Rückzug ins Private.

2. Erfahrung: Nicht mehr DDR, noch nicht BRD: Warum die Länder Heimat wurden.

Viele Ostdeutsche haben die Nachwendejahre als eine „Zwischenzeit“ empfunden. Die DDR existierte nicht mehr, in der Bundesrepublik fühlten sich viele aber noch nicht angekommen. Und das hatte bei weitem nicht nur emotionale und kulturelle Gründe, sondern durchaus auch materielle. Einige von ihnen sind teilweise bis zum heutigen Tage nicht vollständig ausgeräumt: angefangen von Rentenrecht bis zum Lohnniveau in vielen Berufsgruppen.

Menschen sind aber emotional auf „Heimat“ angewiesen. In der „Zwischenzeit“ haben deshalb die Bundesländer diese Repräsentationslücke ausgefüllt. In Sachsen und Thüringen, die auch zu DDR-Zeiten ihre landsmannschaftliche Besonderheit gepflegt hatten, war das nicht überraschend. In Brandenburg, dessen Traditionen und Historie als verschüttet galten, war es aber fast ein kleines Wunder, dass sich hier sehr schnell ein gleich starker Regionalpatriotismus herausbildete. Erklären lässt sich das nur durch ein Bedürfnis nach Halt in einer unruhigen Zeit, der den Menschen hilft, besser durch die schwierigen Jahre der Transformation zu kommen.

3. Erfahrung: Die Stärke einer Demokratie misst sich an ihrer Integrationsfähigkeit.

Nach der friedlichen Revolution wollte die Mehrheit der Ostdeutschen die Vereinigung der DDR mit der Bundesrepublik. Ein relevanter Anteil der ostdeutschen Bevölkerung, übrigens auch Mitglieder von SED, Blockparteien und Bürgerbewegungen, stand diesem Vereinigungsprozess aber mit einer gewissen Reserviertheit gegenüber und wollten zunächst eine reformierte DDR. Sie blickten kritisch auf die gesellschaftlichen Realität in der Bundesrepublik (Massenarbeitslosigkeit, Umgang mit Nazi-Vergangenheit, Reichtumsverteilung). Andere hatten Angst, dass ihre Lebensleistungen missachtet werden, dass sie „Kohlonialisiert“ werden sollten. Die Vereinigung wird heute viel zu oft auf ihre ökonomischen Notwendigkeiten reduziert. Es ging nach 1990 aber auch darum, Menschen für Rechtsstaat und Demokratie zu begeistern und sie mit ihren Erfahrungen mitzunehmen. Die Überlegenheit einer Demokratie gegenüber einer Diktatur zeigt sich eben darin, dass sie auch Menschen, die ihr zunächst kritisch gegenüberstehen, die Hand reicht und ein Angebot zur Integration macht. Vor dieser Aufgabe standen die Alliierten beim Aufbau der westdeutschen Demokratie nach 1945, vor dieser Aufgabe standen die westdeutschen Demokraten auch nach der 68er Studenten-Revolte. Und vor dieser Aufgabe stand auch das vereinigte Deutschland nach 1990. Von der Maxime der Integration hat sich die Brandenburger Landespolitik nach 1990 leiten lassen. Wer guten Willens war, beim Aufbau der Demokratie mitzuwirken, sollte seine Chance erhalten. Die Alternative zu dieser Politik hätte Ausgrenzung bedeutet. Eine Demokratie aber, die Menschen ausgrenzt, schafft sich dauerhaft ihre eigenen Feinde und destabilisiert sich damit selbst.

4. Erfahrung: Die Dominanz der westdeutschen Interpretationshoheit löst Abwehrreflexe aus.

Mit der Vereinigung ist eine Minderheit, die 40 Jahre lang in einem anderen Staat lebte, einer selbstbewussten westdeutschen Mehrheitsgesellschaft beigetreten, die ihre eingeübten politischen, kulturellen, medialen Muster nach 1990 beibehalten und durchgesetzt hat. Diese westdeutsche Interpretationshoheit stößt in der ostdeutschen Gesellschaft an der einen oder anderen Stelle noch auf leichten Widerspruch. Ein Beispiel ist die historische Chiffre „68“. Ein Westdeutscher denkt sofort an Rudi Dutschke, ein Ostdeutscher eher an den Einmarsch sowjetischer Truppen in Prag.  Auf hinhaltenden Widerstand stößt die westdeutsche Interpretationshoheit aber, wenn sie sich anmaßt, das „gelebte Leben“ in der DDR zu interpretieren. 1989 beendeten die Menschen in der DDR aktiv die Existenz ihres Staates. Sie warfen jedoch nicht ihre individuellen Werthaltungen komplett über Bord. Warum auch? Menschen, die in der DDR gelebt haben, haben nicht 40 Jahre lang ein falsches Leben gelebt. Sie haben nur unter anderen Bedingungen gelebt und Erfahrungen gesammelt, die nicht auf den Müllhaufen der Geschichte gehörten. Zu viele Westdeutsche haben erwartet, dass die Ostdeutschen werden wie sie selbst und ihre Interpretationen teilen.

Dass viele Ost- und Westdeutsche beim Thema Vergangenheit aneinander vorbeireden, hat auch damit zu tun, dass sehr viele Westdeutsche sich zu wenig für alle Facetten des gelebten Lebens in der DDR interessieren. Und es hat damit zu tun, dass versucht wird, ein von vielen Ostdeutschen als einseitig empfundenes Deutungsmonopol des Lebens in der DDR durchzusetzen. In Brandenburg haben wir das in der ersten Hälfte der neunziger Jahre im Zusammenhang mit der Diskussion um Manfred Stolpe erleben müssen. Mit einer breiten Kampagne wurde damals versucht, einen beliebten Ministerpräsidenten wegen seiner Rolle in der DDR aus dem Amt zu drängen. Die Brandenburger spürten, dass diese Sichtweise nichts mit ihren Erfahrungen mit und ihrem Bild von Stolpe zu tun hatte. Deshalb scheiterte diese Kampagne am Eigensinn der Brandenburger. Die Diskussion, die heute einige Akteure im Umfeld der Enquete-Kommission – teilweise die Gleichen wie in der ersten Hälfte der neunziger Jahre – inszenieren, löst bei vielen Brandenburger verständnisloses Kopfschütteln aus. Und erzeugt Abwehrreflexe, sich überhaupt noch mit Vergangenheitsbewältigung auseinanderzusetzen.

5. Erfahrung: Eine Vergangenheitsdebatte, die die Köpfe und Herzen der Menschen erreicht, darf nicht ihr gelebtes Leben ausgrenzen.

Die Auseinandersetzung um die DDR nur auf die Stasi zu orientieren, wird den Erfahrungen der Menschen nicht gerecht. Die meisten Brandenburger sind zurecht der Überzeugung, in der DDR trotz aller Widrigkeiten ein anständiges Leben geführt zu haben. Die Friedliche Revolution hat die große Mehrheit der Brandenburger als Selbstbefreiung erlebt, trotzdem wollen sie ihr individuell gelebtes Leben in der DDR heute nicht als Mitläufertum diskreditiert sehen. Die Überheblichkeit, die einige „Experten“ bei der Beurteilung von Lebensläufen unter Bedingungen der Diktatur an den Tag legen, grenzt die große Mehrheit der Menschen aus, die unter jeglichen gesellschaftlichen Bedingungen in erster Linie das Ziel verfolgen, ihr kleines privates Glück zu finden. Eine Vergangenheitsdebatte, die aber von der Mehrheit der Menschen als losgelöst von ihren Lebenserfahrungen wahrgenommen wird, muss scheitern.

Erst recht wird sie scheitern, wenn sie so offensichtlich gegen eine mit großer Mehrheit gewählte Landesregierung instrumentalisiert wird. Mit Bildung der rot-roten Koalition 2009 versuchen Teile der Opposition die unter der Überschrift „Brandenburger Weg“ erfolgreiche Aufbauarbeit der Brandenburger SPD zu delegitimieren. Dazu wird versucht, das Ansehen wichtiger Repräsentanten der Brandenburger Landespolitik – etwa Manfred Stolpe und Regine Hildebrandt – systematisch herabzuwürdigen und die Arbeit der letzten 20 Jahre einseitig auf das Thema Stasi zu verengen. Billigend in Kauf genommen wird, dass das Ansehen Brandenburgs jenseits seiner Landesgrenzen beschädigt wird. In Brandenburg wird dieser Versuch der nachträglichen Geschichtsumschreibung scheitern, weil er an den Lebenserfahrungen der Menschen vorbeigeht. In den vergangenen 20 Jahren haben wir eins gelernt: Brandenburger sind hochsensibel, wenn sie das Gefühl haben, dass ihnen eine Meinung von oben übergeholfen werden soll. Oder anders ausgedrückt: Belehrung kommt gegen den Brandenburger Eigensinn nicht an!

 

 

 

 

 

 

 

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5 Responses to Fünf Erfahrungen aus 20 Jahren Brandenburg – von Martina Gregor-Ness und Klaus Ness.

  1. 19. November 2011 at 01:13

    Ich bin voll Ihrer Meinung. Niemand sollte zulassen, dass achtbare Menschen durch eine einseitige Betrachtung diskreditiert werden. Selbst wenn es sich um reines Mitläufertum handelt, ansonsten müsste man mehrere Millionen DDR-Bürger quasi Demokratieferne unterstellen.
    Aber eines darf nicht akzeptiert werden: Auch heute noch sind nachweislich Menschen im Staatsdienst die als Obrigkeit in der DDR anderen DDR-Bürgern Unrecht getan haben. Es würde für eine glaubwürdige Politik gerade der SPD sprechen, wenn dies restlos aufgeklärt würde.

  2. I. Hahn
    23. August 2011 at 07:00

    Ich finde den Beitrag der Familie Hess sehr gelungen.
    Alle hier aufgeworfenen Aspekte der Nachwendezeit finden meine Zustimmung. Aber insbesondere bin ich auch der Auffassung, solange von den etablierten Parteien und von Regierungsseite immer noch eine deutliche Hervorhebung zwischen Ost und West gemacht wird, wird auch beim Volk diese Trennung in den Köpfen und Herzen bleiben.

  3. neumann
    22. August 2011 at 19:26

    ich stimme den artikel oben zu, warum spricht nicht nur von den einzelnen bundesländern, außerdem da es für gleiche leistungen noch immer unterschiedliche zahlungen gibt, ebenso bei der rente, wird es noch sehr lange dauern, als ich anfang der 90 jahre erwähnte, wenn ich 100 bin bekomme ich 90 prozent, da warf man mir undank vor, für was soll ich dankbar sein?

  4. IR
    21. August 2011 at 07:58

    Ich hattte die Absicht auf den Artikel “5 Erfahrungen …” des Ehepaares Ness mit vielen negativen und positiven Erfahrungen zu antworten. Als ich aber im Internet noch weiter über das Paar Ness gelesen habe, kann ich nur sagen ist ja ein “hübscher” Artikel. Aber Sie haben wohl nicht an der Grenze (wie Schulzendorf) oder an der Mauer gelebt. Die Grenzen wurde schon sofort nach Kriegsende gezogen. Ulbricht hat sie nur noch sichtbarer und menschenunwürdiger gemacht. Eine Einheit ist mit dem Mauerfall 1989 nur technisch entstanden. Die Mauer ist noch in den Köpfen und wird nach wie vor von der Bundesregierung durch die Betrachtungsweise Ost und West schön aufrecht erhalten. Jede Statistik wird mit Ost und West dargestellt und stachelt die Menschen immer wieder gegen einander auf. Das ist doch der entscheidende Punkt. Wann wird hier endlich die Einheit vollzogen? Erst dann kann auch in Köpfen eine Einheit reifen. Wie wäre es einmal mit so einem Wahlprogramm.

  5. 18. August 2011 at 17:42

    Westdeutsche Interpretation der Geschichte ist nicht nur für DDR Leute ein Problem. Sieger schreiben nun mal die Geschichte, selbst wenn es keinen echten Krieg gegeben hat. Man wird eben annektiert und von außen definiert, durch Vorurteile beschrieben und gerne mal ausgegrenzt. Die Deutsch-Deutsche Geschichte braucht noch Einiges an Zeit um auszuheilen.

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